72 Stunden physische und psychische Grenzbelastung, Laufen bis zum körperlichen Zusammenbruch. Massiver Schlaf- und Essensentzug. So lassen sich die Höllentage, ein Aufnahmetest einer Eliteeinheit, vermutlich in aller Kürze beschreiben. Für viele, vermutlich für die meisten, stellt sich dabei die Frage: Warum zur Hölle tut man sich so etwas an? Und vor allem: Wer geht freiwillig in die Hölle? Ähm…ich J
Nachdem die letzte große sportliche Challenge für mich schon wieder einige Zeit zurücklag, war ich im Sommer diesen Jahres auf der Suche nach etwas Neuem und genau da kam mir eben dieser Aufnahmetest ziemlich gelegen. Im Rahmen von diesem Auswahlverfahren musste eine Gruppe, bestehend aus zehn Teilnehmern, über drei Tage hinweg alle möglichen Challenges meistern. Durchschwimmen von kalten Gewässern, Erklettern von hohen Türmen, stundenlange Belastungsmärsche mit Gewicht und vieles mehr. Als Teilnehmer hat man jederzeit die Möglichkeit entweder freiwillig auszusteigen oder man wird aussortiert, wenn man die geforderte Leistung nicht mehr erbringen kann. Warum ich mir das angetan habe und vor allem, was man daraus fürs „normale Leben“ mitnehmen kann, lässt sich vermutlich am besten an Hand einer Challenge erklären, die gerne eingesetzt wird, um die Teilnehmer an ihre körperlichen und mentalen Grenzen zu bringen.
Es war Mitte des zweiten Tages. Zusammen mit den drei noch verbliebenen Teilnehmern stand ich in voller Montur hinter einem LKW auf einer Straße. Der LKW fuhr nun in einem bestimmten Tempo einen etwa 500 Meter langen und circa 5 Prozent steilen Berg nach oben, während zwei Ausbilder schwere und unhandliche Gegenstände von der Ladefläche warfen. Unsere Aufgabe war es nun, diese Gegenstände einzusammeln und wieder zurück auf die Ladefläche zu werfen. Wir nahmen unsere Position ein und der Lastwagen setzte sich langsam in Bewegung. Die ersten Gegenstände flogen von der Laderampe. Ein Autoreifen … ein Stuhl … ein Holzbalken … noch ein Autoreifen … nochmal zwei Autoreifen.Nach 50 Metern waren wir alle nahe an unserem Maximalpuls. Die Muskeln brannten und in der schweren Montur kam ich mir bei der Hitze vor wie eine Forelle, die in Alufolie im Ofen gegart wird. Etwa fünf Minuten später waren wir oben am Berg angelangt. Wir stellten uns in einer Reihe auf und waren froh und erleichtert, es geschafft zu haben. „Umdrehen, abwärts das Gleiche!“ brüllte uns ein Ausbilder entgegen. Also liefen wir den Berg wieder nach unten, während wir die Gegenstände einsammelten – in doppeltem Tempo, versteht sich. Zwei bis drei Minuten später hatten wir es endlich geschafft und waren wieder unten angekommen. Doch keine 30 Sekunden später schallte uns erneut entgegen: „Umdrehen, nochmal nach oben!“ Hätten wir Luft gehabt, so hätten wir uns gegenseitig gefragt, wie das funktionieren sollte. So dachten wir es uns eben nur. Wieder ging es qualvolle fünf Minuten im Laufschritt den Berg nach oben. Als wir uns oben angekommen wieder aufreihten, realisierte ich, dass die einzige noch verbliebene Frau neben mir zu hyperventilieren begann. Obwohl ich selbst kaum noch Luft bekam, sagte ich zu ihr: „Bleib stehen! Egal, was passiert und wenn wir da nochmal runter müssen. Du bleibst jetzt stehen! Du gibst nicht auf!“ Vermutlich war das im Grunde auch eine Message an mich selbst. Der Ausbilder blickte uns ins Gesicht: „Wollen Sie aufgeben? Alles, was Sie tun müssen, ist, Ihre Hand zu heben und nach vorne zu treten!“ Doch in meinem Kopf war nur ein einziger Satz präsent: „Bleib stehen!“ Es kam, wie es kommen musste: Wieder ging es im Laufschritt nach unten. Endlich hatten wir es geschafft. Die Leiden waren vorbei! „Umdrehen! Hoch da!“ Wir sahen uns kurz an. Man wusste nicht, ob es ein Blick der Verzweiflung oder des Kampfes war. Ein kurzes Nicken und wir wussten: Ja, wir bekommen das hin! Das Spiel begann von vorne. Dieselben Gegenstände, dieselbe Geschwindigkeit.Oben angekommen, hatte ich große Mühe, nicht zusammenzusacken, aber in meinem Kopf sagte ich mir immer und immer wieder dieselben zwei Worte: „Bleib stehen!“ Ich hätte einfach nur meine Hand heben und nach vorne treten müssen. Einmal die Hand heben und ich wäre von der Quälerei erlöst gewesen. Kein Laufen mehr. Kein kaltes Wasser. Keine qualvollen Nächte mehr, in denen man nicht wusste, was als Nächstes auf einen zukommt. Am Ende standen wir alle vier da und keiner hatte aufgegeben!
Die 40 % Regel
Spannend zu beobachten war die Tatsache, wie unterschiedlich die Teilnehmer im Laufe des Camps die Schmerzen und somit ihre körperliche und mentale Leistungsfähigkeit einschätzten. Wenn man seinen Puls schon im Kopf pochen spürt, die Oberschenkel und die Lunge brennen und der Körper danach schreit, endlich aufzuhören, dann ist man aus physiologischer Sicht in etwa bei 40 % seiner maximalen Leistungsfähigkeit angelangt. An diesem Punkt entscheidet ausschließlich der Kopf über weitermachen oder aufgeben.
Doch warum geben nun manche früher und manche später auf? Es hat etwas mit den Referenzerlebnissen zu tun. War man noch nie in einer physischen oder psychischen Grenzsituation oder hat man anders ausgedrückt keine entsprechenden Referenzerlebnisse, so fällt es natürlich schwer, daran zu glauben, dass man noch kann, wenn man das erste Mal in eine solche Belastungssituation kommt. Je mehr solcher Situationen man jedoch erlebt hat, umso mehr wird einem bewusst, dass zwischen Auftreten des Schmerzes und dem tatsächlichen körperlichen Versagen noch eine Menge Luft ist. Und umso mehr realisiert man, dass „ich kann nicht mehr“ meistens doch in der „ich-will-nicht-mehr-Straße“ wohnt J
Wenn’s unangenehm wird, geht’s voran
Vielleicht denkst Du Dir jetzt, wie viele andere auch: „Das ist doch verrückt! Warum tut man sich solche Schmerzen an? Muss der Schmerz denn sein?“ Wer Fortschritt und Entwicklung möchte, der muss durch den Schmerz hindurch. Daran führt kein Weg vorbei. Mit Schmerz umgehen zu lernen, hilft uns zum einen, an Schicksalsschlägen, die zwangsläufig auf jeden von uns zukommen werden, nicht zu zerbrechen. Zum anderen ist Schmerz die schnellste und gleichzeitig eine der effektivsten Methoden, um sich wirklich zu entwickeln. Glaubst Du nicht? Wie lernt ein Kind laufen? Durch Schmerz, den es spürt, wenn es hinfällt. Wie entwickeln wir unsere Fähigkeiten in Beziehungen? Durch den Schmerz einer zerbrochenen Beziehung. Wie entwickeln wir uns im Job? Durch den Schmerz, den wir beispielsweise durch Fehler oder falsche Entscheidungen ertragen müssen.
Ich persönlich habe mir diese Qualen niemals angetan, um irgendwann zu einer Eliteeinheit zu gehören. Ich habe mir diese Qualen angetan, um meinen Geist zu trainieren und ihm zu sagen: „Scheißegal, was jemals auf Dich zukommen wird, du bleibst stehen und hebst niemals die Hand!“ Ich trainiere und leide nicht für irgendeinen Wettkampf. Das habe ich weder beim Triathlon noch bei den Höllentagen gemacht. Ich trainiere und leide für meine persönliche Entwicklung im Leben. Ich trainiere und leide, um aus mir einen besseren Menschen zu machen. Denn mich den Schmerzen und Leiden auszusetzen, hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin.
Für mich persönlich ist und bleibt Sport nach wie vor ein exzellenter Lehrer fürs echte Leben. Es sind eben diese Erfahrungen, die mich wachsen und reifen lassen. Wenn ich dann diese Erfahrungen in meinen Vorträgen oder meinen Büchern weitergebe, dann versuche ich damit nicht vorzugeben, welcher Weg für jeden der richtige ist, sondern ich biete ein Buffet an, bei dem sich jeder das für sich Passende rauspicken kann. Wenn es dadurch auch nur ein/e Leser/in oder Zuhörer/in schafft, weiter zu machen, stehen zu bleiben und nicht aufzugeben, dann haben sich all diese Qualen für mich gelohnt.
Bleib stehen und hebe niemals Deine Hand!
Dein Florian Wildgruber
27.07.2022