Auch wenn ich mit diesem Artikel ggf. viele Kontroversen auslösen werde, ist es mir ein tiefes Bedürfnis, mich zu dieser Debatte zu äußern.
Noch nie haben deutsche Athletinnen und Athleten bei Leichtathletik-Weltmeisterschaften so schlecht abgeschnitten, wie aktuell. Von allen Seiten werden sowohl die Sportler als auch deren Leistungen in der Luft zerrissen.
Ja, ich war selbst einmal Leistungssportler mit dem Anspruch der Beste zu sein. Doch wie so oft im Leben ändern sich manche Ansichten auch mal. Ich habe seit dem Ende meiner Sportlerkarriere noch nie wirklich offen darüber gesprochen, wie sehr mich der Leistungsgedanke nicht nur viele Jahre meines Lebens unnötig unter Druck gesetzt hat, sondern mittlerweile sogar anwidert. Höher, schneller, weiter. Das sind Attribute, die gerade auf uns Deutsche sehr gut zutreffen. Dieses Leistungsdenken hat uns nicht nur im Sport, sondern auch wirtschaftlich in vielen Bereichen an die Spitze gebracht. Doch Moment mal! Zu welchem Preis eigentlich? Was ist aus den Menschen geworden, die ihren Teil dazu beigetragen haben, dass „wir“ zur Spitze gelangt sind?
Es gibt mittlerweile genügend Untersuchungen, die zeigen, dass die Anzahl der Hochleistungssportler, die unter Depressionen oder depressiven Verstimmungen leiden, erschreckend hoch ist. Auch im wirtschaftlichen Kontext ist es kein Geheimnis mehr, dass mit steigender Anforderung Manager und Führungskräfte ausbrennen. Wir reden halt nicht so gerne darüber. Wir sind lieber hart zu uns selbst und machen Dinge mit uns selbst aus, die wir lieber nicht mit uns selbst ausmachen sollten. Es wird als Zeichen der Schwäche betrachtet, wenn man zugibt, dass man einfach nicht mehr kann. Oder noch viel schlimmer für viele, dass man Hilfe benötigt.
Ich habe viele Jahre für das Ziel gekämpft zu den besten Triathleten zu gehören. Der Ironman Hawaii oder andere Meisterschaften waren für mich der tägliche Antrieb, mich und mein Körper zu schinde, ihn widerstandsfähig zu machen, alle Körpersignale zu unterdrücken, die mich davon abhalten, Spitzenleistung zu erbringen, Gefühle und Emotionen, die mir vermitteln sollten, dass es nicht okay ist, was ich meinem Körper gerade antue, wegzuschieben. War das eine erfolgsversprechende Strategie? Und wie! Nach vielen Jahren hatte ich es endlich geschafft. Ich hab das erreicht, was ich mir immer erwünscht und erträumt hatte. Ich bin als Erster über die Ziellinie gelaufen. Nachdem der erste Schwall an Endorphinen und Dopamin meinen Körper wieder verlassen hatte, ähnlich wie bei einem Drogenabhängigen, kam die große Ernüchterung, begleitet von einer zentralen Frage: Wozu das alles?
Es hat mich einige Jahre und unzählige Therapiestunden gekostet, ein gesundes Verhältnis zu mir, meinem Körper und meinem Geist aufzubauen und all die unterdrückten Emotionen und nicht gelebten Gefühle zulassen zu können. Warum ich das erzähle? Für viele scheint es bei der aktuellen sportlichen Krise die Medizin der Wahl zu sein, wieder mehr zur Leistung zurückzukehren. Aus meiner Sicht ist das nicht nur eine sehr triviale und äußerst vereinfachte Denkweise, sondern vielmehr noch ein Zeichen dafür, dass viele offensichtlich nichts verstanden haben. Kindern und Jugendlichen wird vorgeworfen, dass sie nicht mehr hart genug sein, dass sie nicht mehr kämpfen, dass sie sich nicht mehr anstrengen wollen. Doch mal ganz ehrlich: wem wird hier eigentlich wofür genau ein Vorwurf gemacht? Machen wir hier gerade der jungen Generation einen Vorwurf, dass es ihr zu gut geht?
Ganz unabhängig davon. Geht es ihnen denn wirklich gut? Unter den 12 bis 17 Jährigen leiden laut aktuellen Untersuchungen 3-10 % unter Depressionen. Diese nun mit mehr Leistung behandeln zu wollen, ist an Polemik und Empathielosigkeit kaum zu überbieten.
Ich bestreite nicht, dass wir uns in vielen Situationen an den einfachen Weg gewöhnt haben, aber die Lösung dabei ist doch sicher nicht, dass wir uns das Leben nun selbst wieder schwer machen, damit wir uns abhärten. Auch wenn sich sehr viele Dinge in den letzten 100 Jahren mit einer rasenden Geschwindigkeit entwickelt haben, so sind wir evolutionsbedingt immer noch auf eine einzige Sache geprägt: Überleben! Dieses Überleben ging vor tausenden von Jahren logischer Weise deutlich einfacher, wenn man Energie gespart hat und den einfachen Weg gegangen ist. Es widerspricht vollkommen unserer Natur, uns mutwillig selbst das Leben schwer zu machen.
Ja, es ist ein schmaler Grad, auf dem wir uns befinden. Wie viel Arschaufreißen ist nötig, um sich gesund zu entwickeln und zu wachsen und wie viel Arschaufreißen ist zu viel, so dass wir daran kaputt gehen?
Brauchen wir den Perfektionismus, der gerade uns Deutsche lange Zeit ausgemacht hat? Ich denke nicht. Denn Perfektionismus ist in vielen Situationen einfach nur ein Zeichen der Unsicherheit. Ein Zeichen nicht zu genügen, wenn es nicht perfekt ist. Wird man der beste Sportler der Welt werden, wenn man nicht den Anspruch hat, perfekt zu sein? Ich denke nicht. Wird man das erfolgreichste Unternehmen der Welt, wenn man nicht den Anspruch hat, der Beste zu sein? Auch da bin ich ziemlich sicher, dass das nicht passieren wird. Doch die Frage ist vielleicht eine ganz andere. Reicht es nicht auch sehr gut zu sein oder muss es unbedingt exzellent sein? Reicht es nicht vielleicht auch 90 % Einsatz zu bringen und die dafür mit Lebensfreude und Zufriedenheit?
Wir bekommen regelmäßig einen Wink mit dem Zaunpfahl, nein mit dem Baumstamm, aber offensichtlich lernen wir nichts daraus.
Wenn sich mal wieder ein Profisportler suizidiert wird das ein paar Tage zum Thema gemacht und danach gehen wir meist unseren gewohnten Weg weiter. Warum lernen wir nicht, dass das Ziel im Leben niemals das Ziel sein sollte?
Michael Schumacher oder Boris Becker haben am Gipfel ihrer Karriere bitterlich geweint, weil sie erkannt haben, dass es von nun an nur noch Berg ab gehen kann. Für mich war ein Großteil meines Lebens zielorientiert und ja mit Fleiß, Anstrengung, Disziplin und Härte ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dieses Ziel zu erreichen. Doch wer den Gipfel als das ultimative Ziel im Leben definiert, wird feststellen, dass es nichts Bittereres gibt, als dieses Ziel zu erreichen.
Doch was ist nun die Lösung? Wieso so oft bei sehr komplexen Themen, gibt es darauf keine einfache Antwort. Leider finden Menschen, die vermeintlich einfache Antworten geben, viel zu häufig Gehör bei anderen. Viele erhalten lieber eine falsche Diagnose, als gar keine. Mit dieser Denkweise werden wir jedoch nicht die Probleme und Herausforderungen unserer Zeit lösen.
Wenn ein ehemaliger Spitzensportler in einem Zeitungsartikel darüber spricht, dass wir als verweichlichte Gesellschaft endlich wieder zurück zu unseren Werten finden sollten und dann auch noch eine Kausalität zwischen der Integration von Menschen aus rückschrittlichen und unterentwickelten Kulturen (was auch immer das sein soll) und unseren Ergebnissen bei einer Weltmeisterschaft herstellt, dann ist das einfach nur eine widerwärtige Anmaßung. Diesen Menschen ist offensichtlich nicht im Ansatz bewusst, welches Glück sie bei der Gen-Lotterie hatten. Dass sie in diese Gesellschaft hineingeboren wurden, ist schlicht und ergreifend nur mit einem einzigen Wort zu erklären: Glück
Auch wenn ich nun in meiner Konklusio gerne eine Lösung präsentieren würde, so kann ich das nicht. Alles, was mit diesem Artikel tun kann, ist mit meinen persönlichen, individuellen Gedanken und Erfahrungen einen Spiegel anzubieten, der dazu führt, dass die Leserinnen und Leser gewohnte und festgefahrene Denkweisen grundsätzlich hinterfragen und nicht einfach nur versuchen, neue Wege mit alten Steinen zu pflastern.
Vielleicht besteht der Ansatz auch darin, die junge Generation nicht überzubehüten, wodurch nur zu oft Angstzustände entstehen, weil scheinbar an jeder Stelle Gefahren lauern. Wenn man einem Menschen wirklich helfen möchte, die beste Version seiner selbst zu werden, dann niemals dadurch, indem man der Person das überstülpt, von dem man glaubt, dass es gut für sie sei, sondern indem man sie sieht und wahrnimmt, wie sie wirklich ist. Erst dann und wirklich erst dann beginnt die Person über sich hinaus zu wachsen.
Die Währung ist dabei nicht Leistung, sondern Zuspruch und genau daraus wird die Selbstwirksamkeit entstehen, die notwendig ist, um das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen zu meistern.
Mich persönlich hat es 30 Jahre gekostet, bis ich zu dieser Erkenntnis gekommen bin. Bin ich nun am Ziel? Mit Sicherheit nicht, aber aber definitiv auf einem Weg, auf den ich später einmal mit innerem Seelenfrieden zurückblicken kann.
Schließen möchte ich diesen Artikel mit einer, wie ich finde, sehr inspirierenden Geschichte über den früheren Schwergewichtsweltmeister Mike Tyson. In einem Interview antwortete der einstige „baddest man on the planet“ auf die Aussage des Interviewers, dass er mit den vor ihm liegenden Gürteln und Pokalen Geschichte geschrieben hat, mit folgenden Worten: „Das [die WM-Gürtel und Pokale] ist Müll. Ich habe für diesen Müll geblutet. Wenn Du jung bist, bedeutet es Dir alles. Wenn Du älter wirst, realisierst Du, dass sich Deine Prioritäten verändern. Es ist Dir wichtig, dass Deine Kinder glücklich sind und Du nette Dinge tust. Das macht dich glücklich.“
Vielleicht ist genau diese Denkweise nicht das Ende, sondern der Anfang. Der Anfang eines gemeinschaftlichen, empathischen Miteinanders, das von Mitgefühl, Hoffnung und Zuversicht geprägt ist.