Kannst Du Dich noch an vieles aus dem Schulunterricht erinnern? Ja? Willkommen im Club! Ich mich nämlich auch. Zum Beispiel an die unzähligen Karikaturen, die ich meinen Mitschülern oder auch mal unfairen Lehrern in die Hefte gemalt habe. Oder die unglaublich raffinierten Spickzettel, die ich mir ausgedruckt und als Etikett auf meine Wasserflasche geklebt habe. Oder aber auch diese verträumten Blicke aus dem Fenster auf den gegenüberliegenden Garten, bei denen ich mir immer vorstellte, wie spannend es nun wäre, da draußen etwas zu erschaffen. Ach ja, an die Inhalte aus dem Unterricht kann ich mich leider nur noch sehr vage erinnern. Warum auch? Es gab doch weitaus spannendere Sache zu erleben, als einfach nur da zu sitzen und seinen Mund zu halten.
Zugegeben, ich war und bin nicht überdurchschnittlich intelligent, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass man mit Disziplin und Ehrgeiz die fehlende Intelligenz oder das fehlende Talent ziemlich gut kompensieren kann. Ich habe mir den Lernstoff einfach ins Hirn reingepresst und das „Wissen“ dann in der Prüfung ausgekotzt, um es dann wenig später wieder aus dem Gedächtnis zu löschen. Kommt Dir das auch bekannt vor? Falls ja, dann bist Du in guter Gesellschaft. Laut einer Studie sind ein paar Jahre nach dem Schulabschluss nur noch erschreckende 1-5 % des Schulwissens in den Köpfen. Dabei ist unser Gehirn ein unfassbar grandioses Instrument, auch wenn es bei manchen Mitbürgern nicht so den Anschein macht.
Das Gehirn, das unbekannte Wesen
Wie grandios und vor allem wie komplex unser Gehirn wirklich ist, machen folgende Zahlen sehr eindrucksvoll deutlich. Unsere grauen Zellen haben laut aktuellen Forschungen eine Speicherkapazität von unglaublichen 2.500.000 Gigabyte, also 2.500 Terabyte oder 2,5 Petabyte. Das entspricht einer Speicherkapazität von über 400.000 Hollywood-Filmen in hochauflösender Qualität oder würde ausreichen, um alle Bücher der amerikanischen Library of Congress, der größten Bibliothek der Welt, abzuspeichern. Unser Denkkasten macht gerade einmal 2 % unseres Körpergewichts aus, verbraucht dabei aber 20 % der gesamten Körperenergie. Die Tatsache, dass wir so unglaublich wenig aus diesem Potenzial machen, verdeutlicht einmal mehr, dass wir vor allem erst einmal in unserem Gehirn eine Energiewende brauchen! Richtig spannenden ist in jedem Fall die Tatsache, dass dieses faszinierende Organ nicht erst gefüllt werden muss, damit es funktioniert! Ganz im Gegenteil, es bringt in aller Regel bei einem gesunden Menschen schon alle Funktionen mit, frei Haus, wir müssen nichts dafür tun. Wahrlich ein beeindruckendes Organ von dem ALLES, wirklich alles abhängt. Egal, ob wir uns einen Text einprägen, eine Sprache lernen, die richtigen Sätze für ein wichtiges Gespräch zurechtlegen oder aber zum Sport motivieren möchten, alles beginnt im Kopf.
Doch beginnen wir tatsächlich immer damit, erst an unserem Geist oder, wie man Neudeutsch sagt, am Mindset zu arbeiten? In den allerwenigsten Fällen tun wir das! Um fitter zu werden, führt uns der erste Weg meist ins Fitness-Studio. Um abzunehmen, machen wir die nächstbeste Diät. Um uns einen Text einzuprägen, versuchen wir einfach nur, Wort für Wort auswendig zu lernen. Wir verstehen den Mechanismus dahinter, wie unser Gehirn also arbeitet, nicht wirklich – und genau aus diesem Grund fühlen wir uns so machtlos, wenn uns bestimmte Sachen dann nicht gelingen. Jahr für Jahr scheitern beispielsweise tausende Menschen an ihren Neujahrsvorsätzen, weil sie an den falschen Stellschrauben drehen. Den meisten kann man dabei aber absolut keinen Vorwurf machen, denn wir lernen es ja genauso!
Das Gehirn eines Kleinkindes entwickelt sich in aller Regel großartig! So lange, bis, ja, bis es in die Schule kommt. Hat es sich bis zu diesem Zeitpunkt seine Fähigkeiten über „Trial and Error“, Versuch und Irrtum, also über persönliche Erfahrungen und Ausprobieren erarbeitet, folgt nun eine Druckbetankung mit Wissen. Aber nicht etwa mit Erkenntnissen darüber, wie unser Gehirn funktioniert und arbeitet, sondern mit Wissen, das die Kinder zu 99 Prozent ohnehin nicht interessiert. Statt der Frage, warum man sich Fremdsprachen nicht merken kann, wirklich auf den Grund zu gehen, gibt es die Anweisung: Lern einfach Deine Vokabeln. Nebenbei bemerkt, ist reines Vokabelpauken nachweislich die ineffizienteste Methode, um eine Sprache zu lernen. Statt die Frage zu beantworten, wie es möglich ist, dass eine Rakete die Erdumlaufbahn verlassen kann, hören wir: Ist doch egal, wichtig ist, dass Du die Formel kennst. Und statt herauszufinden, wie man es schafft, sich in schwierigen Momenten aufzuraffen, bekommen wir zu hören, das sei nicht prüfungsrelevant.
Es würde so viele nicht nur spannende, sondern vor allem auch wirklich elementare Fragen geben, denen man auf den Grund gehen könnte, nein sollte, nein MÜSSTE! Was passiert im Gehirn, wenn man traurig ist? Was passiert, wenn man verliebt ist? Wie motiviert man sich, wenn man am Boden ist? Wie reagiert man empathisch auf einen anderen Menschen? Ja, das ist vielleicht alles nicht prüfungsrelevant, wohl aber lebensrelevant! Wir füllen unsere Kästchen im Hirn – Job, Beziehung, Hobbys, Allgemeinbildung, Sprachen, Naturwissenschaften usw. – mit Wissen, ohne auch nur im Ansatz zu verstehen, wie wir dieses Wissen nutzen, geschweige denn miteinander verknüpfen können. Was nützt das beste Wissen über Mathematik, wenn man vor lauter Prüfungsangst nicht einmal mehr den Stift bewegen kann? Was nützt der stärkste Körper, wenn die Motivation fehlt, diese Kraft im Wettkampf abzurufen? Was nützt das beste Abnehmkonzept, wenn die Disziplin fehlt?
Trainingseinheiten für den Geist
Man wird nie kontrollieren können, was man nicht versteht. Genau aus diesem Grund ist es für mich immer noch vollkommen unverständlich, wieso in der Schule nicht einmal im Ansatz darüber gesprochen wird, wie man das Gehirn benutzen kann. Für jede noch so billige Kamera auf dem Markt gibt es eine Bedienungsanleitung mit über 100 Seiten. Aber für das Komplexeste, was es auf dieser Welt gibt, nämlich unser Gehirn, gibt es keine. Wie sollen wir verstehen, wie wir es richtig einsetzen können, wenn wir nie lernen, wie es funktioniert und arbeitet? Das wäre in etwa so, als wenn Dir jemand eine Spiegelreflexkamera für 10.000 Euro schenkt und Du keine Ahnung vom Fotografieren hast. Und Du bekommst nur gezeigt, wo der Ein- und Ausschaltknopf ist, wie man den Akku wechselt und vielleicht noch ein paar dieser banalen Dinge. Vielleicht findest Du irgendwann heraus, wo der Auslöser ist oder was die anderen Knöpfe bedeuten könnten, aber wenn Du nicht lernst, wiedas Teil funktioniert, also wo Du Dich mit der Kamera platzieren musst, wie Du belichten musst, welche Zusatzeinstellungen es gibt und so weiter, dann werden trotzdem Scheißfotos dabei herauskommen – egal wie gut die Kamera ist.
Betrachtet man die Besten der Besten in ihrem jeweiligen Bereich einmal etwas genauer, so wird man feststellen, dass in der Regel weder ihr Intelligenzquotient noch ihr Talent sie an die Spitze gebracht haben. Vielmehr sind es Fähigkeiten wie Durchhaltevermögen, Wille, Konzentration, Schmerztoleranz, Selbstvertrauen, Empathie, Leidenschaft, Commitment, Disziplin oder Begeisterungsfähigkeit. Viele Menschen, die noch nicht einmal einen Schulabschluss haben, sind dennoch in ihrem Bereich ganz weit vorne, in erster Linie deswegen, weil sie verstanden haben, wie sie ihren Geist einsetzen können. Wenn man die Funktion verstanden hat, dann muss man das Wissen nur noch auf die Festplatte aufspielen, aber dafür muss man die Bedingungsanleitung kennen.
Dein Florian Wildgruber
31.05.2022